ULRIKE LEHMANN
Fotografie und Architektur sind im Grunde zwei sich widersprechende ästhetische
Äußerungen. Die Fotografie gilt als das Festhalten eines Augenblicks,
ein auf Dauer eingefrorener Moment. Sie ist ein Ausschnitt aus Raum und
Zeit. Architektonische Gebilde hingegen sind statische Monumente von Dauer.
Architekturfotografie hält nicht eine Bewegung oder ein besonderes
Ereignis fest, sondern Momente der Dauer und Ruhe. Das leb- und bewegungslose,
scheinbar dauerhafte Objekt der Wirklichkeit ist Gegenstand der Architekturfotografie,
die in der Regel keine Verweise oder Anhaltspunkte für den Verlauf
von Zeit enthält.
Durch die Fähigkeit der Reproduktion kann die Fotografie ein Bild
von Gebäuden und Konstruktionen vermitteln, die dem Betrachter sonst
möglicherweise unbekannt bleiben würden. Um das abgebildete
Objekt in Wirklichkeit sehen zu wollen, müßte der Betrachter
reisen und es vor Ort aufsuchen. Mit Hilfe der Architekturfotografie werden
gebaute Phänomene sichtbar, überliefert und vergegenwärtigt.
Dabei ist die Fotografie nie das Phänomen selbst, sondern zugleich
Abbild und Bild. Dreidimensionales wird den Gesetzen des zweidimensionalen
Bildes unterworfen. Die Zentralperspektive suggeriert Räumlichkeit
auf der Fläche, die ihrerseits durch Linien, Formen und Farben vom
Fotografen komponiert ist. Die Bildkomposition erzeugt eine Distanz zum
und eine Abstraktion vom dargestellten Objekt. Das fotografische Bild
hat eine eigene Realität, es ist Medium zwischen Welt und autonomer
Bildrealität. Der Betrachter ist jedoch geneigt, die Wirklichkeit
in den Bildern zu sehen, statt die Wirklichkeit der Bilder wahrzunehmen.
Anfänge
Seit seiner Studienzeit beschäftigt sich Boris Becker mit Architektur
als Thema in der Fotografie. In den Jahren 1984 bis 1988 schuf er eine
umfangreiche Serie von Schwarzweißfotografien, die verschiedene
Hochbunker in Deutschland darstellen (vgl. Abb. 1-5). In jeder Aufnahme
stand das einzelne Gebäude im Mittelpunkt des Bildes. Die Schwarzweißdarstellung
und die Nüchternheit der Aufnahmen verweisen auf den dokumentarischen
Charakter. Becker wollte damit eine Typologie aufstellen und die Unterschiedlichkeit
bzw. Gemeinsamkeit der Bauten studieren. Besonders faszinierten ihn dabei
jene Gebäude, die ursprünglich eine andere Funktion hatten,
im Zweiten Weltkrieg dann aber zu Bunkern umfunktioniert wurden, wie z.B.
ein alter Festungsturm in Nürnberg (Abb. 1), oder Hochbunker, die
ursprünglich als solche gebaut und genutzt wurden, nach dem Krieg
aber umgestaltet und nun anderweitig, z.B. als Kirche (Abb. 2), Verwendung
finden. Deren Fassaden werden nicht selten an die unmittelbare Umgebung
angepasst.
Becker sieht hierin den »fake«, d.h. es wird ein Gebäude
für etwas anderes ausgegeben als es wirklich ist. Es interessierten
ihn auch Details an den Fassaden, Ornamente und Reliefs im Sinne der nationalsozialistischen
»Blut-und-Boden-Gesinnung« (Abb. 3) oder eigens an ein bestehendes
Gebäude angebaute Balkone, sogenannte Führerbalkone, die laut
eines Erlasses an jedem Bunker sein mussten, um die Allgegenwärtigkeit
des »Führers« zu dokumentieren (Abb. 4).
Diese Serie zeigt deutlich die enge Verbundenheit mit den seriellen Arbeiten
seines Lehrers Bernd Becher, bei dem er von 1984-1990 an der Kunstakademie
in Düsseldorf studiert und als Meisterschüler abgeschlossen
hat. Bernd und Hilla Bechers dokumentarische Schwarzweißfotografien
u.a. von Wassertürmen, Fachwerkhäusern, Fabrikhallen und Gasbehältern
sind zu Serien zusammengefügt und ergeben eine jeweilige Typologie,
durch die die verschiedenen Bauten eines Typs bzw. einer Funktion bei
gleichen Aufnahmebedingungen auf ihre vergleichbare Struktur hin analysiert
werden. Jedes Motiv wird mit der gleichen Standorthöhe aufgenommen
und in die Mitte des Bildes plaziert, meist frontal, nur selten diagonal,
bei trübem, neutralgrauem Himmel, ohne harte Schatten und ohne effekterzielendes
künstliches Licht. Auch sind nie Menschen im Bild, weil dadurch das
Gebäude eine bestimmte soziale Komponente erhalten würde, was
von den Bechers jedoch nicht beabsichtigt ist.
Die betonte Sachlichkeit schließt einen expressiven Ausdruck oder
einen Gestaltungswillen der Fotografen aus. Für ihre Serien erhielten
die Bechers auf der Biennale in Venedig 1990 den Goldenen Löwen für
die Kategorie Skulptur. Die dargestellten Gebäude werden von den
Menschen, dem Wetter und der Umgebung isoliert. Insofern sind sie absolut
gesetzt »auch im Hinblick auf ihren funktionalen Zusammenhang, Monumente
ihrer selbst, zugleich Symbole einer auf Funktionalität und Effizienz
hin organisierten Gesellschaft.«. Durch die Isolierung vom Umfeld
sprechen diese Gebäude für sich. Der Blick richtet sich auf
Formalästhetisches, und in der Fotografie erscheinen sie als anonyme,
bildgewordene Skulpturen.
Bernd Becher hat aufgrund seiner Lehrtätigkeit in Düsseldorf,
aber auch aufgrund der mit seiner Frau entwickelten Typologien zahlreiche
Künstler der jüngeren Generation beeinflußt, so daß
daher von einer »Becher-Schule« gesprochen wird. Ihre konzeptionelle
Vorgehensweise und ihre spezifische Sicht auf Architektur, die in der
Fotografie skulptural erscheint, lässt sich bei vielen ihrer Schüler
nachvollziehen.
Die Hochbunker-Serie steht zweifelsohne in der Becher-Tradition. Aber
anders als die Bechers untersuchte Becker einen Gebäudetyp nicht
auf eine vergleichbare, ähnlich wirkende Architektur, sondern auf
seine ambivalente Funktion hin, bei der zudem eine historische und politische
Bedeutung relevant ist. Die Interpretation der Hochbunker-Serie ist insofern
auch der inhaltlichen, sozialen, historischen und politischen Dimension
verpflichtet - im Gegensatz zu den rein sachlich fotografierten Gebäuden
der Bechers. Beckers Hochbunker-Serie geht also über die rein skulpturale
Erscheinungsweise der spezifischen Architektur hinaus. Darüber hinaus
wechselt der fotografische Standort bzw. die Perspektive innerhalb der
Serie. Während bei Bernd und Hilla Becher jedes Bild in einen seriellen
Zusammenhang gebracht wird, z.B. durch die Präsentation mehrerer
Motive in einem Rahmen oder durch die Hängung einzelner gerahmter
Fotografien in Blöcken, kann das Einzelbild aus der Hochbunker-Serie
von Becker auch isoliert betrachtet werden, eben weil die Analogie der
Architektur nicht so zwingend ist wie bei den Bechers. Nicht zuletzt gehört
zu jedem Bild die Angabe des Ortes, der Straße und des Zeitpunkts
der Entstehung der Fotografie. Von der Serie zum Einzelbild
Bernd Becher hat Boris Becker eine thematische Vorgehensweise vermittelt.
Im Anschluß an die Hochbunker-Serie wandte sich das Interesse des
Künstlers mehr dem Einzelbild zu. Diese beiden Charakteristika sind
bis heute für sein Werk relevant geblieben. Dabei hat er sich vor
allem zwei Themen zugewandt, wie auch in dieser Ausstellung zu sehen ist:
der Architektur bzw. den Konstruktionen und den agrarischen Feldern. Alle
Aufnahmen, die nach der ersten Serie entstanden sind, wurden ausschließlich
farbig fotografiert.
Becker interessiert bei diesen beiden Themen vor allem die jeweils vorhandene
Struktur. Seine künstlerische Herangehensweise an ein architektonisches
Motiv ist von unterschiedlichen Interessen gelenkt: mal ist es die extreme
perspektivische Flucht (vgl. die Unterseite einer Brücke, Abb. S.
*, das Parkhaus, Abb. S. * oder die Sicht in die tiefe Schlucht eines
Aufzugsschachts in dem Marineehrenmal Laboe, Abb. S. *), mal die Farbe
bzw. Farbkontraste (vgl. den Eingang einer Bar, Abb. S. *, oder den orangen
Wagen vor einer blauen Wand, Abb. S. *), mal die skulpturale oder grafische
Sicht auf die Form des Bauwerks (vgl. den Brückenkopf , Abb. S. *,
oder die Hochhäuser in Krakau, Abb. S. * und Rzeszòw, Abb.
S. *) oder die abstrakte Struktur (vgl. die grüngekachelte Häuserwand,
Abb. S. *), die ornamentale Struktur, die sich durch die Anordnung von
Neonröhren ergibt (Abb. 6), oder das lineare Geflecht von Hochstraßen,
Abb. S. *). Wann und ob er eine Situation fotografiert, ist nicht vorhersehbar,
und daher ist ein Interessenschwerpunkt, ein methodisches Vorgehen oder
eine stringente Konzeption nicht auszumachen, durch die die Verfolgung
eines Zieles oder einer inhaltlichen Aussage erkennbar wäre. Becker
unterwirft das Objekt seiner subjektiven kompositorischen Sicht.
Wie seine bisherigen Arbeiten belegen, steht das Einzelbild im Vordergrund:
»Jedes Mal sehe ich etwas neu und ich weiß nicht, was ich
als nächstes mache« , sagt Becker. Dementsprechend weisen seine
Einzelbilder immer wieder neue Gesichtspunkte auf, die als »Setzungen«
bezeichnet werden können: Der mit dem Blickwinkel gewählte Ausschnitt
stellt die fotografierte Konstruktion als Ganzes ins Zentrum des Bildes.
Nur sehr selten weicht das architektonische Motiv, im Gegensatz zu den
Felder-Bildern, an den Bildrand aus. Aus- oder Anschnitte, die auch eine
inhaltliche Bedeutung transformieren können, sind für Becker
nicht relevant. Haupt- und Nebensächliches ist, trotz gleichbetonter
Tiefenschärfe, klar voneinander unterschieden. »Fake«
Seit einigen Monaten arbeitet Becker auch an einem neuen Thema. Er untersucht
und fotografiert Gegenstände, die von Zollfahndern sichergestellt
wurden, weil sie geschmuggeltes Kokain enthielten. Darunter befanden sich
ein Friseurstuhl, ein Schuh, ein Bergsteigerseil und ein Gemälde,
dessen Farben die weiße Droge beigemischt worden war.
Becker geht es auch hier - wie bei der Bunker-Serie - um den »fake«,
um das Vortäuschen falscher Tatsachen, um Ambivalenz und Doppelbödigkeit,
die den fotografierten Gebäuden und Gegenständen inhärent
sind, die aber nicht allein das Bild beherrschen, zumal sich die »falschen
Tatsachen« nicht auf den ersten Blick offenbaren. Der Betrachter
stellt Fragen an das scheinbar objektive Bild, die jedoch häufig
unbeantwortet bleiben. Er läßt sich auf den abgebildeten Gegenstand
bzw. auf das dargestellte Gebäude ein, was aber letztlich nicht das
ist, was es zu sein vorgibt. So ist das fotografierte Gemälde kein
Kunstwerk, sondern Transportmittel für Rauschgift, ebenso die anderen
Gegenstände. Auch viele Gebäude aus der Hochbunker-Serie sind
Scheinarchitekturen, die eine andere Funktion vortäuschen als sie
in Wirklichkeit haben bzw. hatten. Dadurch entziehen sie sich in ihrer
eigentlichen Bedeutung der Wahrnehmung des Betrachters.
Mit seiner scheinbar objektiven Fotografie will Becker vermitteln, daß
Fotografie - trotz Schärfe und Detailgenauigkeit - objektive Dokumentation
gar nicht leisten, daß sie präzise Informationen über
Wirklichkeit gar nicht wiedergeben kann. Auch zu jeder noch so dokumentarisch
und objektiv erscheinenden Fotografie benötigt der Betrachter Hintergrundinformationen,
um den »fake«, die Doppelbödigkeit zu enttarnen. Im Fall
der Hochbunker-Serie wie auch in den neueren Gegenstandsfotografien wird
die hintergründige Aussage jedoch im seriellen Verbund augenscheinlicher.Flüchtige
und Schein-Architektur
Die in den Motiven gesehene und festgehaltene Ambivalenz zieht sich wie
ein roter Faden durch das bisherige uvre von Becker. Betrachtet
man die einzelnen Fotografien, deren Gegenstand architektonische Gebilde
bzw. Konstruktionen sind, so wird man sein Anliegen auf verschiedene Weise
entdecken und wiederfinden, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick.
Das große, isoliert stehende Hochhaus im polnischen Krakau ist kein
Wohnhaus, sondern eine monolithisch erscheinende Bauruine (Abb. S. *).
Gleiches gilt für eine Hochhausruine an der Autobahn nahe Troisdorf
(Abb. 15). Und das Ladenlokal mit seinen zwei gleichen Türen und
der blauen sowie gelben Folie, die die Schaufenster zu monochromen Bildwerken
machen, anstatt Auslagen zu zeigen, scheint nicht mehr in Betrieb zu sein
(Abb. S. *).
Ein Schwerpunkt, den Becker innerhalb seiner Architekturfotografie setzt,
ist die »flüchtige«, zufällige oder »unfreiwillige«
Architektur. Gemeint sind erstens Gebäude oder Konstruktionen, die
nur für eine bestimmte Zeit existieren oder zweitens Gebilde, die
nur für einen Moment eine architektonische Erscheinungsweise haben
und insofern auch als »Scheinarchitektur« bezeichnet werden
können. Zur ersten Gruppe zählt die Fotografie von der Achterbahn,
die gerade im Aufbau befindlich ist (Abb. S. *); das lange, kastige Baugerüst,
das eine Leitung über Schienen ummantelt (Abb. S. *); eine Brückenkonstruktion
im Hochwasser bei Köln (Abb. S. *); der Brückenkopf, der mit
schwarzer Farbe angestrichen wurde (Abb. S. *), aber auch das zur Zeit
der Aufnahme im Umbau befindliche Grand Palais in Brüssel, dessen
Dachbogenkonstruktion sonst nicht so offen liegt. Zur zweiten Gruppe zählt
die lange Wand im Feld, die aus weißen und braunen Wasserkästen
nahe einer Fabrik aufgebaut wurde (Abb. S. *) oder das architektonisch
anmutende Gebilde aus Strohpaketen, das auf einem Feld steht (Abb. S.
*). Die Fotografien von temporären Konstruktionen fixieren ihren
zeitlich befristeten Zustand, ihre Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit.
Sie halten das Flüchtige eines Bauwerks auf Dauer fest. Insofern
wird der Faktor Zeit in vielen Architekturfotografien Beckers relevant.
Mit den Darstellungen dieser »flüchtigen Architektur«
nähert er sich mimetisch dem Medium Fotografie als dem Festhalten
eines Augenblicks an.
Ein weiterer Bereich innerhalb der Architekturfotografie ist die Sicht
auf Strukturen, die reale architektonische Elemente abstrakt erscheinen
lassen, so z.B. die grüne Kachelwand, die aufgrund ihrer vielen Farbnuancen
wie ein Mosaik aussieht (Abb. S. *) oder die Deckenbeleuchtung aus Neonröhren
in einem Kölner Kino, das in der Extremsicht von unten nach oben
und isoliert vom Umraum im fotografischen Bild zu einem leuchtenden Ornament
wird (Abb. 6). Diese Strukturbilder stellen eine verwandtschaftliche Nähe
zu den Feldern her, die Becker fotografierte. Hier wie dort wird das wirklichkeitsgetreue
Abbild zu einem abstrakten Bild, dessen Herkunft und Wirklichkeitsbezug
nicht preisgegeben wird. Nur kleine, unauffällige Details lassen
Rückschlüsse auf ein architektonisches Motiv zu. Besonders bei
diesen Beispielen wird eine Kongruenz von Mimesis und Abstraktion augenfällig.
Es ist nicht unbedingt wichtig zu wissen, welche Doppelbödigkeit
sich hinter dem Dargestellten verbirgt. Von Bedeutung ist im Grunde zuallererst,
wie es erscheint und wie es auf den Betrachter wirkt. Boris Becker selbst
formulierte: »Das Ambivalente interessiert mich ganz besonders,
es darf aber nicht das ganze Bild beherrschen.« Abbild und Abstraktion,
Architektur und Skulptur
Mit den zahlreichen Einzelbildern, die architektonische Motive aufweisen,
hat sich Becker schon bald von seinen Vorbildern gelöst und eine
eigene Position herausgebildet. Was als Relikte der Becher-Schule gelten
können, sind die durchgehende Abwesenheit von Menschen, die annähernde
Abgrenzung vom realen Umfeld und die Absolutsetzung des Motivs, das auch
unabhängig von seinen Funktionen formalästhetisch untersucht
werden kann. Der Blick wird auf das Motiv fokussiert. Es wird in seinen
architektonischen, skulpturalen Eigenschaften gesehen, aber auch auf seine
Form und Farbe hin untersucht. Dieser Vorgang führt zu einer Abstrahierung
des dargestellten Gegenstandes.
So kann das Wohngebäude in Rzeszòw (Abb. S. *) als rechteckiger
Kasten mit Farben und Linien wahrgenommen werden, der vor einer blau strukturierten
Fassadenwand steht. Die anonyme und monoton bis gleichförmig wirkende
Bauweise, die perspektivische Flucht, die räumliche Nähe zweier
Gebäude und die scheinbar auf Formen und Farben reduzierte Ästhetik
rücken den dargestellten Gegenstand sogar in die Nähe der minimalistischen
Skulptur.
Vergleichbar dazu ist die Aufnahme von der Wasserkasten-Wand in einer
Landschaft (Abb. S. *). Auch hier sind gleichförmige kubische Elemente
unhierarchisch aneinandergesetzt und potentiell endlos fortführbar.
Dieser Eindruck wird durch den Bildanschnitt links und rechts noch verstärkt.
Die »unfreiwillige Architektur« steht in unmittelbarer kontrastiver
Verbindung zur landschaftlichen Umgebung. Die monotone Reihung industriell
hergestellter Kästen und ihre braune und weiße Farbe heben
sich deutlich von dem gelb-grünen Feld und der formalen, natürlich
gewachsenen Struktur der Bäume ab. Boris Becker hat diese Fotografie
nach dem traditionellen Schema der Bildkomposition aufgebaut. Deutlich
sind Vorder-, Mittel- und Hintergrund unterschieden. Neben dieser Dreiteilung
ergibt sich bei näherem Hinsehen auch eine Zweiteilung. Die Wiese
und die Architektur können - wenn man vom dargestellten Gegenstand
abstrahiert - zusammen als zwei horizontale Streifen gesehen werden, die
im Kontrast zur oberen Bildhälfte stehen.
In der vom Fotografen festgelegten Komposition erscheint die Architektur
wie eine Wand, die den Blick auf das dahinterliegende Panorama versperrt.
Diese Situation erinnert an ein Werk von Sol LeWitt, das er für die
Ausstellung Skulptur-Projekte 1987 in Münster realisierte (Abb. *).
Vor dem Eingang des Schlosses stellte er eine kubische, schwarzgestrichene
Skulptur auf. Mit ihren Maßen von 1,75 m Höhe und 5,20 m Länge
versperrte sie dem auf das Schloss zukommenden Besucher die Sicht und
den Zugang zum Eingang, wodurch er gezwungen war, um die Skulptur herum
zu gehen. Die geometrische Strenge und die schwarze Farbe standen im Kontrast
zur barocken Architektur des Schlosses. Aber auch ein Vergleich zu den
temporären architektonischen Skulpturen von Wolfgang Winter und Berthold
Hörbelt liegt nahe. Diese »Hohlskulpturen«, wie sie sie
nennen, sind ebenfalls aus Flaschenkästen zusammengebaut und begehbar.
Meistens werden hier Dienstleistungen für Ausstellungsbesucher angeboten,
z.B. Information oder Katalogverkauf. 1995 begannen sie mit diesen Arbeiten,
1997 wurden sie durch die Ausstellung Skulptur-Projekte in Münster
bekannt. Das Bild von Boris Becker entstand 1994.
Diese Vergleiche verdeutlichen, daß eine enge Verwandtschaft zu
den von Becker fotografierten Architekturen und deren skulpturale Erscheinungsweise
besteht. Diese skulpturale Anmutung existiert jedoch nicht in der Realität,
sie wird einzig durch den fotografischen Blickwinkel hervorgerufen. Und
in dem Moment, in dem sich der Betrachter von der Funktion der Gebäude
löst, tritt durch die Transformation von Architektur zu Skulptur
auch eine abstrahierende Wahrnehmung ein. Das Bauwerk wird nun mehr in
seiner Struktur, in seinen Formen, Gliederungsabschnitten und Farben gesehen.
Architektur zu fotografieren, ist bereits ein Akt der Abstraktion. Durch
das fotografische Bild wird ein dreidimensionales Objekt auf die Fläche
gebannt. Es muß sich den Gesetzen des Zweidimensionalen unterwerfen
und wird schon dadurch ganz anders wahrgenommen als in der Wirklichkeit.
In der Fläche wird der dargestellte Gegenstand zu einem Objekt aus
Linien, Flächen und Farben, das zudem mit den vertikalen und horizontalen
Bildrändern in Verbindung steht. So wird das scheinbar wirklichkeitsgetreue
Abbild zu einem vom Künstler - und eben nicht vom Architekten - komponierten
Bild.
Diese Übertragung von der einen in die andere künstlerische
Ebene ermöglicht es, z.B. das Hochstraßengewirr als lineare
Struktur (Abb. S. *) oder den Brückenkopf als grafisches Bild mit
abstrakten Linien und Flächen (Abb. S. *) wahrzunehmen. Diese Sicht
auf das Dargestellte stellt sich nicht zwangsläufig bei jedem Bild
und für jeden Betrachter ein, doch die Motive und den Blickwinkel
so auszuwählen, daß es eine grafische Struktur im Bild erhält,
den Standort so einzunehmen, daß das Objekt nach kompositorischen
Überlegungen in die Fläche gebannt werden kann, ist vom Fotografen
vorgedacht. Von der Bedeutung der Details
»Früher«, so sagt Boris Becker, »wollte ich dokumentarisch,
also authentisch fotografieren, doch seit ich begann, mit Farbfotografie
zu arbeiten, handelt das Bild zwar von etwas, es ist aber losgelöst
von dem, was es darstellt, und es gibt keine weiteren Informationen. Dennoch
hat man bei allen Arbeiten kleine Rückführungen zur Wirklichkeit
durch Details.« Diese Details sind z.B. die Autos vor der Achterbahn,
die auf den Aufbau der Konstruktion verweisen; der Temperaturregler in
der grünen Kachelwand, durch den das abstrakt erscheinende Bild dem
Betrachter einen Bezugspunkt zur architektonischen Wirklichkeit vermittelt
(Abb. S.*) oder der kleine Dachgiebel hinter der Wasserkastenwand, der
einen Bezug zur Architektur herstellt (Abb. S.*), aber auch das American-Express-Schild
an der Hauswand einer Bar (Abb. S.*), die ein Bordell beherbergt.
Mit Roland Barthes könnte man hier von scheinbar »absichtslosen
Details« sprechen, die als beiläufige Nebensache die Hauptsache
im Bild ergänzen oder narrativ unterstützen, die vor allem aber
auch den Abstraktionsgrad der Fotografie wieder aufheben und den Wirklichkeitsbezug
herstellen. Während die digitale Fotografie heute dem Fotografen
die Möglichkeit gibt, die aus seiner Sicht »störenden
Elemente« zu eliminieren, nutzt Becker ausschließlich die
Mittel der analogen Fotografie, um gerade das Wechselspiel zwischen Haupt-
und Nebensache ins Bild zu bringen. Im Falle der grün gekachelten
Hauswand z.B. hätte er auch einen anderen Ausschnitt wählen
können, in dem der Thermostat nicht enthalten ist.
Doch gerade dieses fast nicht sichtbare Detail reizte ihn, um eine Aussage
über die Ambivalenz der Fotografie als Abbild, als getreue Wiedergabe
der Realität einerseits und als abstraktes Bild andererseits zu machen.
Becker wählt seinen Standort bewußt so, daß die für
die bildnerische Ausage relevanten Details mitfotografiert werden können.
Diese beiläufigen »Zutaten« sind für ihn dabei eher
reizvoll als unvermeidlich.
Nicht zuletzt sind die Details für den Fotografen notwendige Signifikanten,
um den Ort, an dem sich das fotografierte Gebäude bzw. die Konstruktion
befindet, nicht zu entindividualisieren. Über ihre ursprüngliche
Semiologie hinaus entwickeln sie eine Art »Biographie des Ortes«,
indem das eine das andere interpretiert. Insofern spielt auch die gleichbleibende
Tiefenschärfe eine bedeutende Rolle, durch die jedes Ding im Bild
gestochen scharf ist, um keine Unterscheidung zwischen Bedeutungsvollem
und Bedeutungslosem durch Unschärfe zu treffen.
Um also das (Abhängigkeits-)Verhältnis von Abbild und Bild aufrecht
zu erhalten, wird das Detail notwendig, durch das - bei aller Abstraktion
des fotografierten Gegenstandes und Hyperrealität des durchgängig
scharfen Bildes - der lokale Bezug nicht gänzlich verloren geht,
wenngleich diese »Zutaten« für den Betrachter nicht absichtsvoll,
sondern eben scheinbar absichtslos wirken. Hierin besteht der größte
Unterschied zu Beckers anderem Themenschwerpunkt, den fotografierten Feldern,
die keinerlei Informationen über ihre Lokalität vermitteln.Zeitgenössische
Architekturfotografie Ein Vergleich
Boris Becker steht mit seinem Interesse an Architektur nicht allein. Zahlreiche
Becher-Schüler wie Andreas Gursky, Thomas Ruff, Axel Hütte und
Thomas Struth fotografieren auf jeweils unterschiedliche Weise Gebäude,
Innen- und Außenräume. Und James Welling oder Ed Ruscha aus
Amerika, Matthias Hoch aus der ehemaligen DDR, Heidi Specker oder Heiner
Schilling können hier ebenso genannt werden wie zahlreiche andere
Künstlerfotografen, die Architektur und deren Details im fotografischen
Bild festhalten und ihnen durch die Fotografie ein neues Eigenleben verschaffen.
Künstler wie Thomas Demand, James Casebere und Oliver Boberg hingegen
stellen architektonische Modelle her, um sie anschließend zu fotografieren
und eine Täuschung der Realität mit den Mitteln der Fotografie
zu erzeugen. Architektur ist in der zeitgenössischen künstlerischen
Fotografie zu einem sehr beliebten Sujet geworden, was einen Vergleich
geradezu herausfordert.
Mit Boris Becker lassen sich am ehesten Becher-Schüler, wie Gursky,
Ruff und Hütte, vergleichen. Thomas Ruff arbeitet seriell, während
Hütte, Gursky und Becker das Einzelbild ohne Wiederholung eines ähnlichen
Typs bevorzugen. Alle hier aufgeführten Becher-Schüler fotografieren
mit einer durchgehenden Tiefenschärfe. Auch wenn manche Fotografien
der Künstlerkollegen von Boris Becker ähnliche Motive und Blickwinkel
aufweisen, muß z.B. im Vergleich zu Ruff und Gursky grundsätzlich
gesagt werden, daß sie ihre Bilder vor allem digital bearbeiten,
während Becker hauptsächlich analoge Fotografien herstellt (vgl.
Abb. 7, Thomas Ruff, Haus Nr. 8 I, 1988; Abb. 8, Andreas Gursky, Brasília,
North Banking Sector, 1994 und Abb. 9, Boris Becker, Rzeszòw 1196,
1994). Er bearbeitet seine Werke nicht am Computer, sondern bezieht das
Vorgefundene in der Realität mit ein; er sucht Details, um die Hauptaussage
zu unterstützen.
Ruff und Gursky retuschieren, sie fügen durch digitale Manipulation
mehrere Fotos zu einem zusammen, z.B. um ein Appartmenthaus zu vergrößern,
oder entfernen Details aus den Aufnahmen, die sie aufgrund der beabsichtigten
kompositorischen und inhaltlichen Aussage stören. Damit stellen sie
die fotografische Wiedergabe von Wirklichkeit in Frage und negieren den
Anspruch auf einen dokumentarischen Status. Während Ruffs Architekturfotografie
nur wenige »beiläufige Zutaten« beinhalten, sind bei
Gursky zahlreiche Einzelheiten durchkomponiert und bedeutsam, doch nicht
zugleich auf einen Blick zu erfassen. Axel Hütte verzichtet auf kleine
Details, doch sind seine Fotografien zumeist Ausschnitte aus einem größeren
Gebäudekomplex. Die Architektur drängt sich bei ihm an die Bildränder,
von denen das Dargestellte angeschnitten wird (vgl. Abb. 10, Balford Tower,
1990). Architektonische Elemente verlieren ihre Funktion und erscheinen
im Bild nur noch als konstruktive, den Bildaufbau gliedernde Elemente.
Im Gegensatz zu Becker, der sich - bis auf zwei Ausnahmen (»Grand
Palais 1509« und »Laboe 1356«) - ausschließlich
auf Außenaufnahmen konzentriert, wählen Gursky und Hütte
auch Innenräume aus. Ruff und Gursky beziehen auch das künstliche
Licht ein, Ruff fotografierte zudem effektvoll beleuchtete Häuser
bei Nacht (vgl. Abb. 11, Ricola Mulhouse, 1994). Becker macht bislang
ausschließlich Aufnahmen bei Tag, ohne künstliches Licht, aber
auch ohne große Schattenbildungen, um die Neutralität zu wahren.
In den architekturbezogenen Bildern von Andreas Gursky spielt der Mensch
eine zentrale Rolle. Becker vermeidet die Menschen im Bild; er wartet
so lange, bis sich kein Mensch an dem Objekt befindet, das er fotografieren
möchte. Auch Ruff zeigt keine Gebäude mit Menschen, denn die
Personen eliminiert er digital. Seine Bilder vermeiden die Aspekte Narration
und Emotion. Eine Aufnahme von Gursky, die sein Interesse an abstrakten
Strukturen aufweist, könnte mit Beckers Ornament aus Neonröhren
oder besser noch mit der grünen Kachelwand verglichen werden (vgl.
A. Gursky, Abb. 12, Brasília, General Assembly I, 1994, B. Becker,
Abb. 6 und Abb. S. *). Während Becker die Darstellung von temporären
Konstruktionen bevorzugt, lassen sich derartige Motive bei seinen Künstlerkollegen
zur Zeit nicht finden.
In einigen Bildern von Becker, Ruff und Gursky gibt es Frontaldarstellungen
der Gebäude (vgl. Abb. 13, Thomas Ruff, Haus Nr. 3 II, 1988, Abb.
14, Andreas Gursky, Paris, Montparnasse, 1993 und Abb. 15, Boris Becker,
Hochhausruine 1153, 1994). Diese Art der Gebäudedarstellung läßt
einen höheren Abstraktionsgrad zu als Seitenansichten. Die Häuserfront
erscheint flächig im Bild und nimmt durch die betonten horizontalen
Linien Bezug auf die entsprechenden Bildränder. Ruffs und Gurskys
Fotografien sind an den vertikalen Bildrändern angeschnitten, sie
stellen scheinbar nur einen Ausschnitt aus einer potentiell unendlich
fortführbaren Fassade dar.
In den 90er Jahren waren es vor allem diese banalen, gesichtslosen, alltäglichen,
unspektakulären Gebäude, die die Künstler interessierten,
vor allem der rationale und anonym erscheinende Wohnungsbau mit seiner
schlichten Ästhetik der 50er und 60er Jahre. Durch die großformatigen
Fotografien wurde das Banale und Alltägliche zum Besonderen. Heute
sind Axel Hütte und Andreas Gursky wie Nomaden in der Welt unterwegs,
um spektakuläre Objekte aufzunehmen - Hütte fährt z.B.
nach Island, und Gursky fotografiert die Börse in Tokio. Durch die
zunehmende Bedeutung von Architektur im kulturellen und sozialen Bereich
wird auch der Name des Architekten in breiteren Kreisen wieder bedeutungsvoller.
Die Fotografen reisen zu den Gebäuden bekannter Stararchitekten,
um dort künstlerische Aufnahmen zu machen und dabei Mensch und Architektur
zu beobachten. Boris Becker bleibt im mitteleuropäischen Raum. Ihn
interessieren die hiesigen Bauruinen und unfertigen Konstruktionen mehr
als hypergestylte Architektur, die für sich schon in Anspruch nimmt,
ein Kunstwerk zu sein.
Man könnte die Vergleiche weiter fortsetzen. Bedeutsam dabei ist
lediglich die banale Tatsache, dass jeder Künstler seine eigenen
Ziele verfolgt und die Erkenntnis, dass Architekturfotografie im Zeitalter
der Globalisierung, des Nomadentums und des »cross over«,
der interdisziplinären Verbindung verschiedener Kunstgattungen, derzeit
ein hohes und breites Interesse bei zeitgenössischen Künstlern
erfährt. Ihre Darstellungen von Gebäuden, so unterschiedlich
sie auch sind, manifestieren durch Fotografie architektonische Monumente
unserer Zivilisation. Doch zugleich wird das Abbild zu einem komponierten
Bild aus Linien, Farben und Flächen, aus rhythmischen Gliederungen
und geometrischen Strukturen. Nicht zuletzt stellen sie mit ihren Fotografien
- ob analog oder digital bearbeitet - die fotografische Wiedergabe von
Realität grundsätzlich und immer wieder neu in Frage.
thank you for your interest